15. September 2016

"Wir wollen gemeinschaftlich und achtsam miteinander wohnen"

Das Prinzip der Achtsamkeit ist in aller Munde, doch wie oft wird diese wirklich auch gelebt?

In Reutlingen fanden sich Menschen zusammen, die ein Leben ohne bloße Lippenbekenntnisse führen wollten.Zusammen wohnen, leben, essen – sich umeinander zu kümmern und dennoch eigenständig zu bleiben, war das Ansinnen der drei Gesellschafterinnen. Ulrike Droll, Sibylle Höf und Kirsten Levene entwickelten die Idee von einem Mehrgenerationenhaus, das energetisch effizient und aus umweltfreundlichen Materialien hergestellt sein sollte. Mit dieser Prämisse gingen sie auf die Suche nach weiteren Mitstreitern.

 

Wie möchten wir im Alter leben?

Nicht ganz auf sich alleine gestellt zu sein und die Vorteile einer Hausgemeinschaft genießen, dies war ein erklärtes Ziel für die Projektgruppe. Mit einem Stammtisch sollten Interessierte für das Unterfangen gewonnen werden. Die Gruppe besuchte andere Mehrgenerationenprojekte und sprach mit Menschen, die Ähnliches auf die Beine gestellt hatten. 2010 gründeten Droll, Höf und Levene die «Wigwam Gemeinschaftswohnen GmbH». «WIGWAM» sollte keine optische Beschreibung sein, sondern eine inhaltliche: «Wohnen in Gemeinschaft. Wertschätzend. Achtsam. Miteinander.» Schon im darauf folgenden Jahr war das perfekte Grundstück in Reutlingen gefunden. Die Infrastruktur war vielversprechend, die Lage ideal. Die ambitionierte Baugruppe schlug zu. In der Vorplanung für das langgezogene Grundstück, eröffnete der Architekt den Bauherrinnen, dass eine Bebauung mit zweieinhalb Geschossen möglich sei, wodurch Wohnraum für acht Parteien entstehen würde. Doch wer sollte in die restlichen Wohnungen einziehen? Auch wenn in der Broschüre zum Bauvorhaben alle Geschlechter und Altersklassen willkommen waren, ließen sich Männer nicht auf das Projekt ein. Und die Frauen, die sich fanden, wollten nicht alle auch Gesellschafterinnen werden. Etliche Hürden galt es zu nehmen, bevor zur Adventszeit 2015 tatsächlich das Einweihungsfest steigen konnte. «In jeder Wohnung gab es für die geladenen Gäste und Nachbarschaft eine andere Suppe zu kosten, und das weitläufige Haus konnte unter die Lupe genommen werden», entsinnt sich Ulrike Droll. Per Beamer wurde eine Dia-Show des Aufbaus an die Wand des Gemeinschaftsraumes projeziert, und alle erlebten noch einmal wie es dazu kam, dass heute an dieser Stelle gefeiert werden konnte.

 

 

 

Der Weg zum Mehrfamilienhaus aus Holz

Die Baugruppe beauftragte den badischen Fertighaushersteller WeberHaus mit dem Bau ihrer über Jahre gereiften Vision vom gemeinsamen Wohnen. Ein Novum, denn das Bauunternehmen ist generell auf Ein- und Zweifamilienhäuser spezialisiert. Aber auch Objektbauten und Miethäuser werden in ökologischer Fertigbauweise von WeberHaus gebaut. Die Vorteile sind dieselben: termingerechte Lieferung bei vertraglich geregelter Kostentransparenz, hohe Energieeffizienz und nachhaltige Materialien. «Wir wollten natürlich nicht die Katze im Sack kaufen, wir haben uns vorher genau im Internet über die Holzständerbauweise informiert», sagt Berta Wolf souverän.

Zwei der Bewohner sitzen im Rollstuhl und bewohnen rollstuhgerechte Wohnungen, während sämtliche Wohnungen barrierefrei ausgeführt sind. Für all jene mit Rollator und Gehhilfe erweist sich der außen installierte Plattformlift als äußerst komfortabel. Wenn einmal in der Woche das Plenum aller Bewohner im Gemeinschaftsraum zusammen kommt, schafft es auch jeder dorthin. Zehn Monate betrug die Bauzeit insgesamt, von Januar bis Oktober 2015. Ulrike Droll merkt an: «Der emotionalste Moment der gesamten Bauzeit war sicherlich der, als ein Schild mit den Vornamen der drei Gesellschafterinnen mit in die Bodenplatte eingelassen wurde.» Nicht weniger ergreifend war für die Reutlingerinnen dann auch das Richtfest. «Wir waren schon sehr stolz auf uns, dass wir das alles zusammen geschafft haben», berichtet Sibylle Höf.

 

 

 

Zusammen wohnen heißt zusammen leben

Die gemeinsam genutzten Räume der insgesamt 511 m² des Hauses gehen weit über praktische Kellerabteile und den Waschraum hinaus. Im zuvor erwähnten Gemeinschaftsraum kommen die Bewohner zum Essen, Diskutieren und Musizieren zusammen. Eine kleine Teeküche ermöglicht den gemeinsamen Kaffee- und Teegenuss. Nebenan befindet sich eine rollstuhlgerechte Toilette, dann folgen die Kellerabteile und die Waschräume. Damit das Zusammenleben auch nahezu reibungslos klappt, wurde eine Mediatorin engagiert, die mit den potentiellen Bewohnerinnen in einem Wochend-Workshop erarbeitete, worauf es ankommt, wenn viele unterschiedliche Menschen unter einem Dach gemeinsam leben wollen. «Das trägt bis heute Früchte, wenn wir zusammen Entscheidungen zu treffen haben», sagt Sibylle Höf mit einem wissenden Schmunzeln.

Ebenfalls im Untergeschoss, als Einliegerwohnung gestaltet, liegt die Wohnung von Annegret Künstle. Die Personalentwicklerin arbeitet am Stuttgarter Flughafen und pendelt von Reutlingen aus. Die studierte Psychologin bringt das Kernkonzept auf den Punkt: «Wigwam ist mein soziales Umfeld geworden. Hier entspanne ich für mich in Ruhe, nach einem langen Tag voller Personalgesprächen. Aber wenn ich mich unterhalten möchte, ist immer jemand da.» Ihre Wohnung verfügt über drei Zimmer, Küche und Bad auf rund 48 Quadratmetern.

 

 

 

Die Wohngemeinschaft im Erdgeschoss

Nicht alle Wohnungen des Projektes «WIGWAM» sind als Ein-Personen-Appartments konzipiert worden. Im Erdgeschoss befindet sich eine Wohngemeinschaft mit drei Parteien. Die insgesamt 173 Quadratmeter könnten aber auch in drei einzelne Wohneinheiten durch wenige bauliche Veränderungen geteilt werden. Hier leben Susanne, Ulrike Droll und Drolls Mutter, die auch im Rollstuhl sitzt und von ihrer Tochter gepflegt wird. Ulrike Droll, Betriebswirtin und die Existenzgründungsberaterin der Fraueninitiative, aus der die Wigwam-Gruppe hervorging, verkaufte ihr Elternhaus in Baden-Baden und zog mit ihrer pflegebedürftigen Mutter um. Ein Schritt, der nicht leicht fiel, erzählt Droll: «Ihr ist es sicherlich schwerer gefallen als mir, aber das Haus machte viel zu viel Arbeit, und war alles andere als barrierefrei.»

 

 

Die große Wohnküche der Wohngemeinschaft bietet auf 31 m² viel Platz, um gemeinsam zu kochen, essen und beisammen zu sitzen. Alle Räume haben selbstverständlich einen schwellenfreien Terrassenausgang, nicht nur im Erdgeschoss.

 

 

Fünf Wohnungen für fünf Lebensentwürfe

Im Obergeschoss leben Berta Wolf, Kirsten Levene, Ulrike Höf, Annemarie Schlegel und Ruth Hildenbrand in den fünf übrigen Wohnungen des generationenübergreifenden Projektes. An ihrer Wohnung schätzt die Ruheständlerin Berta Wolf die komfortablen Aspekte der räumlichen Verkleinerung, auch wenn es nicht immer leicht fiel. Die Bankkauffrau war auch selbst schon zweimal Bauherrin, und wusste, was da auf sie zukommt. Mit dem Schrumpfen der Quadratmeter kämpfte auch Ruth Hildenbrand. Nach dem Tod ihres Mannes suchte sie eine alternative Wohnform für sich alleine. Das Projekt gefiel ihr auf Anhieb gut. Die massiven Holzmöbel aus der gemeinsamen Zeit mit ihrem Mann ließ sie extra von einem Schreiner umbauen, damit sie in die neue Wohnung passten. «Es ist definitv eine neue Lebensphase», stellt Ulrike Droll pragmatisch fest. «Dinge ändern sich, und das Leben eben auch. Sollten mehrere Bewohnerinnen pflegebedürftig werden, können wir eine gemeinsame Pflegekraft anstellen. Noch ist das aber nicht so weit, und wir genießen die Zeit zusammen unter einem Dach.»

 

 

 

Clevere Technik mit Köpfchen

Die Stadt Reutlingen ist bekannt für ihr stark kalkhaltiges Wasser. Diesem Umstand wollte Sibylle Höf mit einem Trick begegenen: sie setzte sich in der Baugruppe vehement für eine Regenwassernutzanlage ein. Ein Erfolg, den heute alle bestätigen können. Die Wartungskosten und Ausfälle der Waschmaschinen reduzieren sich dadurch erheblich.